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Elisabeth Wagner

 

Bernhard Winklers Bildzyklus »Katholisch«

 

Bilder, die nicht zur Ruhe kommen

 

 

Zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit

Es sind Bilder, die vor den Augen verschwimmen. Man möchte Klarheit gewinnen. Aber es würde nichts helfen, sich die Augen zu reiben oder die Brille aufzusetzen, die Bilder bleiben unscharf, spielen zunächst ihre abstrakten Stärken aus. Das erste Bild – oben ist es hell mit vertikalen Streifen, in der Mitte etwas Dunkles, durchsetzt mit hellen Flecken. Weiter unten ist die Bildfläche aufgefächert durch bräunlich horizontale Streifen, nicht regelmäßig, es lässt sich keine Ordnung erkennen, nicht auf den ersten Blick. Erst nach längerem Betrachten zeichnet sich eine dreiteilige perspektivische oder gar zentralperspektivische Anordnung ab, entsteht der Eindruck von räumlicher Tiefe. Allmählich erschließen sich die Umrisse im dämmrigen Raum: rechts und links, das sind wohl Kirchenbänke, ein Mittelgang aus quadratischen Fliesen führt auf den Hochaltar zu. Die Aufnahme zeigt einen sakralen Raum. Der Titel bestätigt die Vermutung: »Kirche 1«. Mehr Halt für die Augen gibt es nicht in diesem Bild, das auch nach dem ersten Versuch zur Identifikation weiter zerfließt, so sehr die Augen sich um eine Fokussierung bemühen. Genau dies jedoch verweigern die Fotografien Bernhard Winklers. Der Betrachter wird nicht fertig mit diesen Bildern, sie bleiben unruhig, bewegt, auch wenn sie de facto stillgelegte Ansichten sind. Es ist die Unschärfe, die die Unruhe im Blick des Betrachters bewirkt, obschon nichts sich verändert in dem, was zu sehen ist. Josef Albers, Künstler und Lehrer am Bauhaus und später am Black Mountain College in den USA, beschreibt das Phänomen in einem anderen Zusammenhang mit dem  Begriffspaar »factual fact« und »actual fact«: Nach objektiven Kriterien ist die Fotografie Pixel für Pixel festgelegt und berechenbar (factual fact), das menschliche Auge jedoch wird durch die Unschärfe zu einem andauenden Wechsel von Aspekten veranlasst (actual fact). Auch wenn der Betrachter nach und nach Gegenstände zu verifizieren glaubt, bleibt die Vieldeutigkeit des Bildes erhalten.

 

 

 

 

Erlebnis der Unmittelbarkeit

»Katholisch« hat Bernhard Winkler diesen Bilderzyklus genannt. Aufgenommen hat er die Fotografien auf Reisen durch Piemont und die Provence. Zum Auslöser wurde ein Erlebnis der Unmittelbarkeit, wie er sagt, beim Eintritt in eine dieser ländlichen Kirchen, in den dämmrigen Raum, spärlich beleuchtet durch das von außen einfallende Licht: das unvermittelte Gefühl, dass alles dies, was sich jetzt zeigt, schon da war, ein Gefühl des Vertrautseins mit der hier aufkommenden Atmosphäre, obwohl er sich am fremden Ort befindet. Es sind eher kleine Dorf- oder Klosterkirchen dort draußen auf dem Lande, nicht solche, auf die in Reiseführern hingewiesen wird in Verbindung mit bedeutenden Architekten, Malern oder Bildhauern. Es sind nicht die Kathedralen, deren Architektur mit ihren hochfahrenden Säulen, Bögen und Gewölben, mit den Lichteinfällen von oben, den überdimensionalen Heiligenfiguren und majestätischen Altären auf eine sakral-auratische Wirkung angelegt ist, die den Gläubigen ergreift und die Präsenz des Heiligen erzeugt, um ihn demütig zu stimmen. Die Dorf- und Klosterkirchen, die Winkler mit seiner Kamera aufgesucht hat, halten wenig von der Repräsentation kirchlicher Macht. Sie dienen den Gläubigen als Räume der Andacht und Sammlung.

 

Das materiell und künstlerisch Wertvolle, Vergoldete, Marmorne – die großen Gesten des Leidens und der Opferung, grundlegend für den katholischen Glauben – gehen hier ein in die unmittelbare Nähe zum Irdischen, zum Alltäglichen, mit dem sich die ländliche Bevölkerung den Glauben am Leben hält und nach ihrem Verständnis einrichtet. So ist es nicht das Imposante des Bauwerks und seine beeindruckende künstlerische Einrichtung, die die Aufmerksamkeit des Eintretenden auf sich zieht, sondern die Atmosphäre, die Ausstrahlung und das Zusammenspiel der Architektur, von Licht und Schatten, der Figuren aus Holz, aus Stein, auch aus Fleisch und Blut. Eine betende Gestalt  wendet dem Betrachter den Rücken zu und ist in der Unschärfe des Bildes doch zu erkennen. Sie wird, so könnte man meinen, zum Inbegriff der zeitlos Betenden, deutlich umrissen durch die Neigung des Kopfes, das Schwarz ihrer Kleidung, das Tuch über dem Kopf, ihre Stellung zum frontal aufragenden, sich weitwinklig spreizenden Altar. Mit diesem ist sie durch das Licht, das Helle um ihren Kopf verbunden. Nein, diese Helligkeit ist kein Heiligenschein, sondern, ganz profan, »ausgefressenes Licht«, wie es im Fachjargon heißt, hervorgerufen durch die lange Belichtungszeit, das leichte Zittern in der Hand des Fotografen.

 

 

 

Keine Aura entfaltet sich auf diesem Bild, keine Atmosphäre des Erhabenen, auch wenn die vertikalen Streifen sich wie Lichtstürze rechts und links vom Zentrum ausnehmen, als helle Flecken unbestimmbar bleiben und damit empfänglich werden für metaphysische Deutungen. Im sakralen Raum des ländlichen Kirchenschiffs herrschen keine idealen Proportionsverhältnisse, die den Eintretenden affizieren und zugleich auf Distanz halten. Vielmehr bildet dieses Ineinander von großer, in Szene gesetzter Geste (der Altar) einerseits und die in Demutshaltung verharrende Betende andererseits eine Nähe und Fülle, die den Eintretenden sofort einbezieht, ihn einer anderen Atmosphäre aussetzt. Katholisch sein ohne die Macht und Pracht der Kirche, als alltäglicher Glaube, führt die Insignien des Christentums auf, aber auch den Kleinmut, die Ängstlichkeit und den Zweifel. Katholisch sein – das ist der frühe Eintritt in eine Atmosphäre, die ihre Gültigkeit bewahrt, selbst wenn der Glaube längst abgelegt ist. Bernhard Winklers Fotografien zeigen diese Erfahrung: die unvermittelte Wiederkehr des Vergangenen, Vergessenen. Der Enge des Glaubens, der damit verbundenen Sehnsucht nach Halt. All’ den Begrenzungen begegnet der frühere Kameramann mit Unbestimmtheit, mit Unschärfe, mit Bildern, die nicht zur Ruhe kommen.

 

Atmosphäre

Es ist die Atmosphäre, die den Eintretenden in dem dämmrigen Raum umfängt, ihn stimmt.

Atmosphäre, das ist neutral betrachtet »eine sinnlich wahrnehmbare Emission von Schall, Licht, Wärme, Geruch und Feuchtigkeit: ein wirbelndes Klima nicht greifbarer Effekte« (Mark Wigley). Gernot Böhme hat das Phänomen Atmosphäre in seiner ästhetischen Theorie auf den Begriff gebracht, als Ästhetik aus der Perspektive der Umwelt, wie er sagt. Über die klassische Ästhetik mit ihren Klassifikationen des Schönen und Erhabenen geht diese Theorie hinaus. Ästhetik ist allererst Aisthesis, sinnliche Wahrnehmung. Über die Wahrnehmung der Dinge erzeugt Sinnlichkeit »das Affektive, die Emotionalität und das Imaginative«: eben das, was man empfindet, wenn man in einen Raum eintritt. (Böhme 1996, S. 15)  Die Atmosphäre selbst ist nicht »freischwebend« zu denken, vielmehr als etwas, das von den Dingen, von Menschen und deren Konstellationen ausgeht und geschaffen wird. Atmosphäre ist demnach »die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen« (Böhme 1996, S. 33), wobei jeder Teil auf die Umgebung ausstrahlt und gleichzeitig durch diese Umgebung gestimmt wird. Übertragen auf die fotographische Ausgangssituation von Winklers Arbeit heißt dies: Der Eintretende wird durch die Stimmung im Kirchenraum eingenommen und gleichzeitig wird dieser Raum durch die Präsenz, die Stimmung des Eingetretenen affiziert: von dieser Mischung aus Fremdsein einerseits und dem Affekt plötzlicher Vertrautheit andererseits, von überwältigender Nähe und Distanz. Seine Fotografien vollziehen diese Bewegung: die Wahrnehmung des fremden Orts und die Faszination an der unvermittelten Begegnung mit den eigenen Kindheitserlebnissen, auf Distanz gebracht und festgehalten mit dem Objektiv der Digitalkamera.

 

In der Dämmerung, Farbe, Licht

Maßgeblich für die Atmosphäre eines Raums sind die Farben, das Licht; es ist die Art, wie sich das Licht im Raum verteilt und die Dinge beleuchtet und sie so zur Geltung kommen lässt. (vgl. Böhme 2006, S. 103) Wenn Bernhard Winkler von einem »Erlebnis der Unmittelbarkeit« beim Betreten einer zufälligen Kirche im ländlichen Piemont spricht, so lässt sich vorstellen, wie er in diesen dämmrigen Raum eintritt: die Umrisse noch ungewiss, die Farben sich im Schummrigen verlierend, die wahrgenommenen Dinge ohne Konturen. Doch gleichzeitig ist er sich gewiss, dass er das hier schon lange kennt, diese längst vergessenen Bilder aus seiner katholischen Kindheit: das Kreuz, den Beichtstuhl, die Betende, den Kreuzgang, die Heiligenfigur. Diese Zeichen verbinden sich zu der Atmosphäre, die der Künstler auch schon einmal respektlos »den Kirchenmuff« nennt.

 

Die Kamera, das distanzierende Medium, ist zum einen Zeuge: Sie nimmt die fremde Gegenwart in Augenschein und verbindet sie mit der unvermittelt auftauchenden Vergangenheit. Die ineinander gleitenden bräunlich-gelblichen Farbschattierungen und -abstufungen – in einigen Bildern durch die nachträgliche Bearbeitung am Bildschirm verstärkt – steigern den atmosphärischen Eindruck des Früheren, des Verblichenen ebenso wie die fehlende Brillianz in den Farben. Jeder Glanz ist zurückgenommen in eine stumpfe Mattigkeit der Farben und vereinheitlicht so die Oberflächen der im Raum anwesenden Dinge.

 

Vertrautheit braucht einen sicheren Ort, dieser hier jedoch ist haltlos in seinen Begrenzungen. Die Figur in gelbbraunen Farben mit einem Schwenk der Kamera  in den Vordergrund transferiert, dominiert den Vordergrund des Bildes. Nach und nach ist sie als Madonnenfigur zu identifizieren. Ihre Hand zeigt auf den roten Fleck, das Herz. Die Unschärfe betont das Puppenhafte einer solchen Figur, unterstreicht den Vorzeigecharakter. Der Raum öffnet sich zu einem Kreuz im Hintergrund. Herz und Kreuz sind auf einer Achse zu sehen, geraten so vielleicht in Zusammenhang miteinander. Der Größenunterschied zwischen Marienfigur und dem Kreuz Christus lässt auf eine weite Distanz schließen und ebenso an einen Höhenunterschied denken. So wird vorstellbar, dass das Kreuz auf einer Anhöhe (Golgotha) steht. Die durch die Aufnahmetechnik provozierten Lichteffekte auf beiden Seiten verstärken zusätzlich den Eindruck unbestimmbarer Raumverhältnisse.

 

 

 

Auch die fest gefügten Mauern eines steinernen Kreuzgangs verlieren durch die Technik der Langzeitbelichtung ihre Festigkeit, ihre Schwere. Sie werden zu einer unsicheren Flucht, die ins Schwarze mündet. Von der Seite fällt Licht ein, signalisiert dass es ein Außen mit eigenwilligen Facetten gibt. Licht dient nicht mehr nur als passives Beleuchtungs- und Inszenierungsmedium, das die Dinge im Raum sichtbar macht oder sie in bestimmter Weise in Szene setzt. In Winklers Unschärfe-Fotos nimmt es selbst Gestalt an, ist von der gleichen Materialität (oder Nicht-Materialität) wie die Wand, die Säule, die Heiligenfigur oder die betende Frau. Eine Art kubistische Streifenstruktur erzeugt ein kristallin wirkendes Gebilde, das den Bildaufbau bestimmt.  In der Kontrastierung mit dem Dunkel wird die  Schöpfung durch Licht erfahrbar. Winklers Kameratechnik steigert die in den Kirchenräumen präsenten Lichteffekte und gibt dem Licht so eine eigene Gestalt.

 

 

In der Fotographie »Die Beichte« dominieren Gelbbraun, Fahlweiß und Braunschwarz in fließenden Übergängen und Schattierungen. Die unscharfe Bilddramaturgie stellt sich vor allem über die verwaschenen oder ausgefransten Helldunkel-Kontraste her. Der Titel schickt das Auge auf die Suche nach der Figur, nach der Szene. Man glaubt im Dunkel einen Beichtstuhl zu erkennen oder doch eher zwei Frauen in Nonnenkleidung, ein Buch, das Gebetbuch, vor sich haltend; Umrisse einer dunklen Gestalt am oberen rechten Bildrand – es könnte der Beichtvater sein, aber auch eine beliebig andere Gestalt. Dem Betrachter ist es überlassen, den Titel auszumalen. Erkennbares wird nicht verwehrt, die Unschärfe wird jedoch nie näheren Aufschluss geben. Sie hält ein Ereignis in der Schwebe – sie ist zeitlos.

 

 

 

 

 

 

Unschärfe

Unschärfe ist das vordergründige Merkmal, mit dem Bernhard Winkler seine Bilder an der Grenze des Wiedererkennbaren, des Surrealen, des Abstrakten, des nicht eindeutig Bestimmbaren vagieren lässt. Als Kameramann war Winkler ein Spezialist für die Bilder in Bewegung. Das Bildmaterial war zu schneiden, mit dem Zoom räumliche und zeitliche Ferne ins Bild zu integrieren. In seinem fotografischen Bildzyklus setzt er die Unschärfe als Ausdrucksmittel ein, um diesem ihm so wichtigen Aufscheinen einer unmittelbaren Vertrautheit am fremden Ort auf die Spur zu kommen. Das atmosphärische Aufscheinen des Gegenwärtigen und des Vergangenen geschieht keinesfalls in fixen Bildern. Erinnerung erscheint als Bewegung, in der vage, verschwommene Bildeindrücke und Imagination sich verbinden mit der aktuellen Wahrnehmung und dem atmosphärischen Gestimmtsein der Umgebung.

 

Es gibt eine lange Tradition der Unschärfe nicht erst in der künstlerischen Fotografie, sondern längst schon in der Malerei. Die Entdeckung der Unschärfe als Qualität für das bildnerische Schaffen ist eng verbunden mit der romantischen Landschaftsmalerei. Der Blick in die Ferne wurde dem klar Konturierten, dem scharfen sezierenden Sehen und der gesteigerten Sichtbarkeit als bevorzugte Qualität gegenübergestellt. (vgl. Ullrich, S. 9 f.) William Turner als Vorgänger des Impressionismus wie Pointillimus ist zu nennen. In seinem Begehren zu malen »was er sehe und nicht was er wisse«, überzog Turner die gesamte Bildfläche mit wechselnden nahezu gegenstandslosen Farbschattierungen, wobei der Malduktus durchaus als eigener Bildwert erscheint. Die zeitgenössische Kritik reagierte auf die aus diesem Bildverfahren resultierende Unschärfe mit Unverständnis: Bei so einem Bild (evtl. kleine Abb. »Schneesturm« von Turner) handle es sich um einen ›Haufen Seifenlauge und Tünsche‹. Die Fähigkeit des fotografischen Mediums zu »scharfer uneingeschränkter Abbildung« verband sich in ihren Anfängen mit der Angst, zuviel könne sichtbar werden, was besser im Verborgenen bliebe. (vgl. Ullrich, S.  20) Turners Impuls »Die Unschuld des Auges« wiederzugewinnen, ließe sich mühelos auf Winklers künstlerisches Verfahren übertragen. So erinnert seine Fotografie »Kirche 2« erinnert an Turners Radikalität, das Sehen an der Schwelle des genauen Wissens auf seinen eher diffusen Ursprung zurückzuführen. Die gegebene Klarsichtigkeit vor Ort – Kirchenbau in der Provence – wird durch eine extrem lange Belichtungszeit buchstäblich ent-schärft und dadurch in die Abstraktion überführt. Die Suche des Auges nach klaren Konturen eines erkennbaren Gegenstands, angeregt durch die deutliche Titelvorgabe, findet kein Ziel, kein Fixum. Stattdessen zeigt sich eine andere Qualität: die überraschende Wahrnehmung von Farbübergängen. Unscharfe Bilder eröffnen vielfältige Möglichkeiten des Sehens, keine ›Wirklichkeit‹ nach der das Auge gewohnheitsmäßig sucht. Da die Unschärfe die Beziehung zwischen dem Bild und dem Abgebildetem ganz anders begreift als etwa der Fotorealismus wird die Aufmerksamkeit verstärkt auf das Entstehen, das Gewordensein des Bildes gelenkt, was neue Möglichkeiten der Wahrnehmung eröffnet und dem Betrachter potentiell zum Bildschöpfer dessen macht, was er sieht.

 

 

Eine Bewegung in der Hand des Fotografen – ein leichtes Zittern bei den teilweise extrem langen Belichtungszeiten –, reicht aus, Unschärfe im Bild zu provozieren und Sehgewohnheiten in Frage zu stellen. Die mit der Digitalkamera gegebene neuartige Montagetechnik ermöglicht es ohnehin, die Dinge an andere Orte zu verlegen. Mit einem Schwenk der Kamera kann das Kreuz-Zeichen in eine andere Umgebung und einen anderen Kontext verrückt werden. Ein durchsichtiger Schatten liegt über dem sich nur vage abzeichnenden Gemäuer. Beim ersten Anblick tastet das Auge die Bildfläche ab, bevor es ein Oben und Unten, eine räumliche Tiefe erfasst und so allererst ahnen kann, dass es sich um eine Kirchenarchitektur handelt. Schemenhaft treten Heiligenbilder, ein Schrein, aufragende Kerzenständer in Erscheinung. Der Schatten in beiden Bildern (s. Abb. 8 und 9) hat die Form eines Cruzifix: der Gekreuzigte mit den weit ausgespannten Armen, dem auf die Brust gesunkenen Kopf; der Betrachter kennt diese  Kreuzes-Ikonographie. Wenn er zu wissen glaubt, was er sieht, tritt die Unschärfe als sekundäres Phänomen zurück. Unschärfe verzögert also das Erkennen. Dieses Zögern, und das ist entscheidend, erschließt den Raum zwischen dem Bild und dem Abgebildeten. »Unscharfe Bilder halten eine Beziehung zwischen Bild und Abgebildetem und eine Präsenz im Bild fest«, so beschreibt es Bernd Hüppauf in seinen Fotoanalysen. (S. 257)

 

 

Zum Vergleich: eine diametral entgegen gesetzte Methode wählt Thomas Struth in seiner Fotoarbeit »San Zaccaria, Venedig«. Was für Bernhard Winkler die absichtsvolle Unschärfe ist, ist bei Struth die sorgfältig herausgearbeitete Scharfsichtigkeit: die gleichmäßige Ausleuchtung des Altargemäldes von Giovanni Bellini wie auch der es umgebenden Malerei und der im Bild festgehaltenen zufälligen Kirchenbesucher vereinheitlichen den perspektivisch angelegten Raum in Bellinis Gemälde und den realen Kirchenraum von San Zaccaria, legen den gesamten Raum in der »sacra conversazione« still. Die betonte Schärfe bei Struth wie auch die gesteigerte Unschärfe bei Winkler erzielen einen gemeinsamen Effekt: die Egalisierung aller Personen oder Objekte, allen Materials. Es gibt keine Bildhierarchie und keine Bildillusion – alles Abgebildete ist gleichermaßen tot oder gleichermaßen lebendig.

 

Die moderne und erst recht die spätmoderne Kunst unserer Tage ist eng verbunden mit dem Medium der Unschärfe, das sich wie ein Schleier über die Motive legt. Man denke an die Werke des Meisters der Unschärfe, Hiroshi Sugimoto, oder auch an Gerhard Richter, der seine Fotos zudem malerisch bearbeitete, um sie aus der fotografischen Fixierung zu befreien. Mit der digitalen Technik stellt sich das Problem von einer ganz anderen Seite: Kann es überhaupt noch so etwas wie ein authentisches Bild als Abbild geben, da dieses jederzeit verändert, moderiert, reproduziert werden kann.

 

Unschärfe als Medium des Atmosphärischen

Unschärfe als Medium des Atmosphärischen soll keineswegs vergessen machen, dass es sich um Bilder handelt, die Gegenstände behandeln. Winklers fotografische Bildwerke verleugnen nicht ihren Anlass, die Aufnahme und Öffnung des Kirchenraumes, seine Gegenständlichkeit. Keineswegs sollen Bilder beschworen werden, die Aufschluss geben über das Gedachte und Erinnerte. Vorstellbar wird  für den Betrachter, wie der Künstler erfasst und bewegt wurde vom Aufscheinen der eigenen Bilder, des Bildgedächtnisses: in dieser Atmosphäre an diesem Ort. Man ahnt, wie diese Bildeindrücke ihre Eigendynamik entfaltet haben in der Präsenz einer bislang unbekannten Kirche im Piemont, wie das Imaginierte und das Gesehene eine Einheit bilden konnten.

 

Absichtsvoll versammelt Bernhard Winkler in seinen Bildern die Untugenden eines auf Realismus ausgerichteten Fotografierens. Er setzt sie ein, um dem atmosphärischen Gestimmtsein auf die die Spur zu kommen, das diese Annäherung überhaupt erst ermöglicht. Die Unschärfe ist keineswegs zu verwechseln mit dem Ungefähren, mit dem man sich abgibt, da man nicht nah genug an etwas Erlebtes oder Erfahrenes heran kommt. Bei Winkler ist Unschärfe eine technisch kalkulierte Möglichkeit der Bildgestaltung. Dort, wo die Kamera mit ihren Möglichkeiten vor Ort nicht ausreicht, um eine Erfahrung festzuhalten, in der sich zeitlich und räumlich Entferntes atmosphärisch verdichten, ermöglicht die digitale Bildbearbeitung die dem Künstler wichtigen Stimmungswerte. Die Fotografie entledigt sich bei Winkler also gleich zweifach ihrer traditionellen Rolle als abbildendes und fixierendes Medium: die Unschärfe verhindert das gegenständlich fassbare Abbild, die Möglichkeit der nachträglichen digitale Bildbearbeitung macht es veränderbar, unabhängig von Zeit und Raum.

 

 

Epilog

Schemenhaft am Ende der Bilderreihe: Der Engel. Wir erkennen ihn gleich als hätten wir auf ihn gewartet – oder gehofft. Er ist verborgen hinter dem Schleier der Unschärfe, Helligkeit umgibt ihn, wir trauen ihm Flügel zu. Er zeigt sein Gesicht. Er lässt uns an den »Angelus Novus« denken, das kleine Bild von Paul Klee, in dem Walter Benjamin den »Engel der Geschichte« sah: das Antlitz der Vergangenheit zugewendet, rückblickend auf die Katastrophe, mit dem Rücken zur Zukunft, in die der Sturm ihn weht. Winkler schaut dem Engel mit seiner Kamera ins Gesicht. Die lange Belichtungszeit rückt ihn fern wie auch den Glauben an ihn. Wir ahnen mehr als wir sehen. Benjamins bedeutungsvolle Engelsgestalt ist vielleicht nur der Schutzengel. Der Schutzengel seiner, unserer Kindheit, der sich unverhofft zeigt, den Blick gesenkt. Doch schaut er keineswegs weg von uns. Er ist wachsam geblieben.

 

 

 

Verwendete Literatur

Gernot Böhme: Atmosphäre. Frankfurt am Main 1995.

Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre. München 2006.

Bernd Hüppauf: Zwischen Imitation und Simulation – Das unscharfe Bild. In: ders., Christoph Wulf (Hrsg.): Bild und Einbildungskraft. München 2006, S. 254 – 277.

Wolfgang Ullrich: Die Geschichte der Unschärfe. Berlin 2003 (2. Auflage).